Während meiner Ausbildung stieß ich immer wieder auf die Polyvagaltheorie, über die Stephen Porges erstmals schrieb. Die Polyvagaltheorie in der Traumatherapie ist von immenser Bedeutung für das tiefe Verständnis von Trauma.
„Der Vagus ist für jeden Aspekt unseres Lebens von zentraler Bedeutung. Er kann für Tiefenentspannung sorgen, ebenso wie für unmittelbare Reaktion auf Situationen, in denen es um Leben und Tod geht. Er kann sowohl Ursache zahlreicher Erkrankungen sein als auch ihre Lösung. Darüber hinaus kann der Vagus für die notwendige tiefe persönliche Verbundenheit mit anderen Menschen und mit unserer Umgebung sorgen.“ (Rosenberg)
Der Vagus ist der 10. von insgesamt 12 Hirnnerven, die das autonome Nervensystem ausmachen. Der Name bezieht sich auf die Vielschichtigkeit und Weitverzweigung des Vagusnervs im Körper. Er unterstützt die Steuerung vieler Körperfunktionen, die für die Erhaltung der Homöostase zuständig sind, also für das Gleichgewicht eines „offenen dynamischen Systems“ (Rosenberg).
Das autonome Nervensystem steuert alle (über-) lebenswichtigen Körpervorgänge wie Kreislauf, Atmung, Verdauung und Fortpflanzung, sowie die Aktivität der inneren Organe, Muskeln und die Funktionen der Sinne.
Der Vagusnerv besteht aus zwei Ästen und einem Strang: den ventralen (vorderen) und den dorsalen (hinteren) parasympathischen Ast. Einige Spinalnerven (Rückenmarksnerven) sind miteinander verflochten und bilden den sog. „sympathischen Grenzstrang“.
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Was ist das soziale Engagement-System (social engagement system)?
Unsere Spezies ist durch das autonome Nervensystem nicht nur auf das reine Überleben ausgerichtet, sondern bildete in evolutionär jüngerer Zeit auch den ventralen Vagus aus, dessen Ziel es ist, sich sozial, also mit anderen Menschen, zu verbinden.
Der ventrale parasympathische Ast des Vagus ist einer von fünf Hirnnerven (V, VII, IX, XI & X), die bedeutenden Einfluss darauf haben, in wieweit ein Mensch in der Lage ist, mit anderen Kontakt zu haben und zu kommunizieren. Wenn diese fünf Hirnnerven richtig arbeiten und keine Gefahr droht, entstehen Verhaltensweisen sozialer Zugewandheit, Kooperation, Kommunikation & Bindung, Beziehungen, Liebe, Tanz & Gesang, Geselligkeit & Selbstberuhigung.
Ein Beispiel aus dem Leben
Nehmen Sie einmal an, Sie sitzen in einem belebten Restaurant. Können Sie die Stimme Ihres Gegenübers gut herausfiltern oder hören Sie die Hintergrundgeräusche besser?
Der Trigeminusnerv (V) sowie der Gesichtsnerv (VII) sind an der Steuerung der Muskeln im Mittelohr beteiligt. Durch muskuläre Variation der Spannung im Trommelfell verändert sich die Lautstärke spezifischer akustischer Frequenzen. D.h. von der Spannung ist abhängig, wie gut wir die Stimme unseres Gegenübers herausfiltern können.
Wenn wir die Situation neurozeptiv (unterbewusste Einschätzung von Situationen auf neurologischer Ebene) als bedrohlich wahrnehmen (das kann reale und auch gefühlte Bedrohung sein) werden wir die Hintergrundgeräusche besser hören. Wenn wir uns sicher fühlen, hören wir die Stimme unseres Gegenübers deutlicher.
Was passiert bei einer Funktionsstörung des Vagusnervs?
Bestenfalls verbleibt unser Nervensystem im sozialen Funktionsmodus und springt nur in den Gefahrenmodus um, wenn tatsächlich Gefahr droht. Dann springt der sympathische Grenzstrang an oder der dorsale Vagus. Ist die Gefahr vorüber, sollte unser Nervensystem wieder in den sozialen Modus umschalten.
Diese dynamische Anpassungsleistung hat ein traumatisiertes Nervensystem nicht, es ist weniger schwingungsfähig (resilient). Durch eine Traumatisierung verlieren wir die Fähigkeit, die Bedeutung von Körperreaktionen und Muskelaktivierung zu erkennen und adäquat einzuordnen (Neurozeption). Wenn der Kontakt zu den eigenen Körpersignalen und Bedürfnissen verloren geht, bedeutet das, dass es unmöglich ist, auf emotionale Zustände von anderen adäquat zu reagieren. Wir reagieren möglicherweise inadäquat, auf kleinere Provokationen mit Hass, erstarren bei Frustration oder reagieren hilflos bei minimalen Problemen. Dies wirkt sich nachhaltig auf jegliche Art von Beziehungen aus. Überlebende sind in sozialen Interaktionen oftmals leicht irritiert bzw. getriggert und sind schnell im Gefahrenmodus- also im Kampf- und Fluchtmodus. (Boger)
Welche Beschwerden können von einer Funktionsstörung des Vagusnervs herrühren?
Migräne, Rückenschmerzen, Zähneknirschen, Kloß im Hals, Arthritis, Energiemangel, Reizbarkeit, Depressionen, gedrückte Stimmung, Ängstlichkeit, Schweregefühl, Ruhelosigkeit, Schlafstörungen, Konzentrationsstörungen, Vergesslichkeit, Tagträumen, Asthma, Hyperventilation, Kurzatmigkeit, Bluthochdruck, Verdauungsstörungen, Allergien, ADHS, Autismus/Asperger, Suchtmittelgebrauch, kein sexuelles Verlangen, Hochsensibilität (Hypervigilanz) u.v.a.m.
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Was können wir tun?
Unser Wohlbefinden hängt von einem funktionierenden und anpassungsfähigen Nervensystem ab. Im Mittelpunkt unserer Anpassungsfähigkeit, insbesondere in Bezug auf Stress, steht der X. Hirnnerv, der Vagus (lat. vagabundierend). Es gibt eine Reihe von Übungen zur Selbstanwendung, die den Vagus dynamischer werden lassen und den ventralen Ast stärken.
Die Auswirkungen der Übungen sind kumulativ, d.h. je mehr wir (in der Therapie und später allein) üben von einem Zustand in den anderen zu gelangen, z.B. aus dem Kampf-Flucht-Modus in den der sozialen Zugewandheit, desto besser und schneller wird es uns zukünftig gelingen. Dies ist eine Erweiterung der Resilienz und Grundlage dauerhafter Gesundheit.
Literatur
Rosenberg S, Der Selbstheilungsnerv, Freiburg 2018
Boger K., Skript Weiterbildung I.B.T.-Methode, Modul 3